Boris

Meine Schreibhütte ist ein Geschenk, aus vielerlei Gründen. Wer Fotos davon auf meinen Social Media Accounts gesehen hat, wird das nachempfinden können. Die Berge, das Meer, der Wind; gelegentlich kommt draußen vor der Tür eine Maus vorbei oder ein Zaunkönig macht einen flüchtigen Besuch.

shed view at night @nme Abeteuer Highlands

Und dann kommt der Tag, an dem draußen ein viel größeres Tier seinen Auftritt hat: Boris.

Ich sitze am Schreibtisch und arbeite an meinem ersten Krimi. Es ist ein trüber Wintermorgen, dunkel und kalt liegt das Meer vor mir. In meiner Hütte aber ist es muckelig warm. Der Mann ist unten am Wasser, um Fotos zu machen. Da ist er täglich, an den Wochenenden oft über Stunden, sein Happy Place.

Ping! Eine WhatsApp Nachricht.

Schatz, hast Du den Seehund gesehen? Ich glaube, mit dem stimmt was nicht.

Warum? Schreibe ich zurück. Mir ist nichts aufgefallen. Ich bin mitten im Morden.

Ich stehe schon über eine halbe Stunde hier, aber er bewegt sich nicht von der Stellen. Und er kommt so komisch senkrecht aus dem Wasser und taucht genauso gerade wieder unter. Als ob er mit den Flossen unten am Grund festhängt.

Oha, denke ich. Wenn der Mann derart ausführlich schreibt, dann macht er sich Sorgen. Ich blicke aus dem Fenster und kann den Kopf des Seehunds im linken unteren Quadrat des Sprossenfensters sehen. Sehr gut, so habe einen Anhaltspunkt, ob er sich fortbewegt oder an derselben Stelle bleibt. Hoffentlich ist das Tier nicht in Not.

Ich schreibe und schaue, und schaue und schaue, immer mehr abgelenkt von dem möglichen Drama, das sich da unter Wasser abspielt und wir nicht erkennen können. Der Mann hat Recht. Der Seehundkopf taucht senkrecht auf, so als würde man ihn an einer Schnur aus dem Wasser ziehen. Sonst kommen die Köpfe eher in einer gleitenden Bewegung an die Oberfläche und dann sehen sie sich meist auch um. Wie ein Mensch, der die Umgebung prüft, ob er sicher ist. Dieser Seehund tut nichts dergleichen. Er benimmt sich, als hinge er im Wasser.

seal in distress @ERM Ewan Roy MacGregor

Jetzt, wo sich vor mir derartige Dramen abspielen, kann ich mich nicht mehr aufs Schreiben konzentrieren. Ich klappe das MacBook zu und schlüpfe in die Gummistiefel. Schnell gehe ich hinunter zu Strand. Der Seehund ist gerade untergetaucht. Die Stelle scheint ganz nah. Ob man vielleicht sogar hin waten kann?

Der Mann und ich debattieren, was zu tun ist. Hin waten gut und schön, aber was dann? Der Meeresboden fällt bald stark ab, wahrscheinlich müsste man den Rest schwimmen. Das Wasser hat 8° Celsius. Und dann? Was, wenn dem Seehund nicht klar ist, dass ich seine Rettung bin? Er könnte ja auch vermuten, dass ich ihn angreifen möchte. Oder generell in Panik um sich beißen. Sind Seehunde gefährlich? Die sehen so nett aus.

Der Mann findet, sie sehen eher gefährlich aus. Er weiß, das ich Greenpeace Mitglied bin und möglicherweise zu spektakulären Aktionen neige.

Google ist mein Freund, denke ich und mache mich an die Recherche.

Wie gut, wenn man eine Journalistin im Haus hat, denkt der Mann und beobachtet weiter.

Der schottische Tierschutzbund RSPCA hat alles auf der Seite, was man wissen muss. Einschließlich Telefonnummern, die man in einem Notfall anrufen kann. Ich checke die Sektion „verletzte Wildtiere“ und finde folgende Information:

Seien Sie vorsichtig, wenn Sie sich wilden Tieren nähern, da sie aus Angst kratzen und beißen können – besonders wenn sie verletzt sind. Wenn es nach dem Beobachten aus sicherer Entfernung möglich ist, das verletzte Tier zu einem nahe gelegenen Tierarzt oder Wildtierpfleger zu bringen, rufen Sie zuerst an, um sicherzustellen, dass das Tier untersucht und behandelt werden kann.

Wenn Sie eines dieser Tiere verletzt sehen, halten Sie einen sicheren Abstand, fassen Sie es nicht an und transportieren Sie es nicht:

Reh

Seehund

Wildschwein

Otter

Dachs

Fuchs

Schlange

Raubvögel (einschließlich Eulen)

Schwan

Gans

Reiher

Möwe

Ich stelle mir vor, wie der Mann und ich gemeinsam versuchen, ein Wildschwein in den Fiat Panda zu bekommen und muss grinsen.

Draußen taucht wieder der grauen Kopf den unglücklichen Tiers auf. Zeit für die Rettungskräfte, denke ich, rufe an und schildere den Notfall. Die Frau am anderen Ende der Leitung ist sehr nett, fragt nach und lässt mich erklären.

„Gehen Sie auf keinen Fall näher an das Tier heran. Seehunde sind gefährlich und haben scharfe Zähne. Ein ausgewachsenes Tier kann bis zu 300 Pfund wiegen und über einen Biss üble Krankheiten übertragen“, sagt die freundliche Schottin.

Oha, denke ich. Gut, dass ich nicht rausgewatet bin.

Ich gebe ihr unseren Post Code und sie checkt den Computer.

„Wir können Ihnen einen wildlife officer schicken. Das sind freiwillige Wildpfleger. Aber ich weiß nicht, ob ich sie an einem Sonntag gleich erreiche. Ich versuche es. Falls ja, kann sie in einer halben Stunde bei Ihnen sein“ erklärt die Frau vom Tierschutzbund.

„Und was macht die Wildpflegerin dann?“ möchte ich wissen. Wie will die ein derart schweres Tier transportieren?

„Oh, sie transportiert das Tier nicht“, erklärt die Tierschützerin am Telefon. „Sie hat eine Decke dabei. Die wirft sie dann über das Tier.“

Okay, denke ich. Wie kommt sie mit ihrer Decke zum Seehund? Und was passiert, nachdem sie sie Decke über ihn geworfen hat? Ich bin verwirrt.

Die nette Dame am anderen Ende erklärt: „Wir brauchen noch ein Boot, um näher an das Tier heranzukommen und einen Taucher, der sich dem Tier nähert und es möglicherweise losschneidet.“

Verstehe, die Decke kommt erst an Land zum Einsatz. Ich hatte vor meinem inneren Auge schon einen Deckenweitwurfwettbewerb am Strand gesehen. Ein bisschen wie mit den Ringen am Jahrmarkt. Und der arme Seehund mittendrin.

Der RSPCA kann eine Taucherin organisieren, aber die kommt aus Portree. Das sind neunzig Minuten, wenn die Straßen frei sind. Hoffentlich hält das Tier so lange durch. Das Wasser steigt, die Flut kommt. Was, wenn es ihm nicht mehr gelingt, die Nase über der Oberfläche zu halten. Dann stirbt das Tier. Man hört ja immer wieder davon. Wale, die qualvoll verenden, weil sie sich in Netzen verfangen haben und so. Wir müssen uns beeilen!

Die Taucherin ist vom BDML, dem British Divers Marine Life Rescue, auch sie ist auf freiwilliger Basis unterwegs aber ausgebildet für solche Fälle. Wahnsinn!

Fehlt nur noch das Boot. Inzwischen hat mir die Frau vom RSCPA (gibt es eigentlich auch Männer bei der Rettung von Seehunden?) die Nummer der Taucherin und die der Deckenwerferin geschickt. Ich lege eine WhatsApp Gruppe seal in distress an und poste die Bilder, die der Mann gemacht hat. Alle sind unterwegs. Und noch haben wir kein Boot. Unseres ist im Winterschlaf und nicht seetauglich. Es ist Anfang Februar, um diese Jahreszeit hat hier kaum jemand sein Boot im Wasser. Außer der Fischer im Nachbarort, der hier ihm Loch seine Reusen ausgelegt hat. Ich habe keine Nummer von ihm, aber von seiner Lebensgefährtin. Die rufe ich an. Nur leider, wie ich tags darauf feststelle, geht sie sonntags nicht ans Telefon. Sie ist Künstlerin, wahrscheinlich zieht sie sich da zurück.

Woher ein Boot kriegen? Der Mann weiß auch keinen Rat.

„Was ist mit der Fischfarm?“ frage ich. „Die haben doch mehrere dieser schnellen Boote.“

„Ja“, bestätigt der Mann. „Die arbeiten auch an einem Sonntag. Aber ob gerade die einen Seehund retten wollen? Die Seehunde attackieren die Lachse. Ich nehme an, die Jungs von der Fischfarm sind nicht gut auf sie zu sprechen.“

Dann muss ich sie eben davon überzeugen, denke ich. Die Jungs von der Fischfarm (obwohl ausgewachsene Männer hier nur als fish farm boys bekannt) sind unsere einzige Hoffnung, wenn wir den Seehund retten wollen.

Gerade taucht seine Schnauze wieder aus dem Wasser auf. Ich stelle mir fest, wie die Flosse in Takelage oder alten Seilen festhängt, vielleicht ist er ja auch verletzt. Ich hole den Schlüssel und fahre zur Fischfarm. Dort angekommen ist alles wie ausgestorben. Wo sind denn alle? Die arbeiten doch sonst immer sonntags. Normalerweise stehen um die zehn Auto auf dem Parkplatz, außer einem grünen Range Rover ist der heute leer. Einer ist also da. Aber wo. Ich hoffe er ist nicht draußen an den Netzen, da kann ich ihn nicht erreichen.

Ich klopfe an beiden Türen am Haus. Kein Laut, keiner macht auf. Ich lächle dümmlich in die Sicherheitskamera. Keine Reaktion. Ich schaue mich um. Auf der anderen Seite der Straße, da wo die ganzen Maschinen und Gabelstapler stehen, ist eine große Lagerhalle. Vielleicht ist da jemand.

„Hallo? Ist da jemand?“

Habe ich tatsächlich den Horrorfilm Satz gerufen?

Die Tür geht auf und ein Bilderbuchfischer tritt heraus. Etwa ein Meter achtzig groß, schlank, weiße Harre, weißer Bart, wie frisch aus der Werbung für wasserdichte Funktionskleidung. Er trägt gelbe HellyHansen Hosen über einem Norwegerpullover und eine blaue Stickmütze. Fast schon zu perfekt, um wahr zu sein, denke ich.

Als er spricht, muss ich mir ein Lächeln verkneifen. Mit leiser Stimme, die so gar nicht zu dem Seemannslook passt, und in sehr gewähltem Englisch, frägt er mich höflich nach meinen Begehr. Er lächelt freundlich und ich erkläre ihm den Notfall.

„Ich habe auch Fotos“, sage ich. Nicht dass er denkt, ich habe das alles erfunden.

„Darf ich die mal sehen?“

Das muss der höflichste Fischer/Fischfarmarbeiter Schottlands sein.

Ich nicke und zeige ihm die Fotos aus meine Handy. Jetzt nickt auch er.

„Habe ich mir gedacht“, sagt er. „Das ist Boris.“

„Boris?“ echoe ich etwas ratlos. Meint er wie Boris Johnson?

„Ja, genau wie der. Und er hat eine kleine Freundin, die heißt Nicola, wie Nicola Sturgeon“, ergänzt er.

Die Jungs von der Fischfarm haben den Seehunden Namen von Politikern gegeben!

„Ich bin übrigens Alan“, durchbricht seine zarte Stimme meine Gedanken und auch ich stelle mich vor.

„Du musst die keine Sorgen machen, Nellie. Das macht Boris immer so. Er bleibt oft für eine Weile an einer Stelle und schaut, ob sich eine Gelegenheit bietet. Wir haben im Moment keine Fische in den Tanks. Die neuen kommen erst in ein paar Tagen. Deshalb sind hier auch keine anderen Mitarbeiter. Wahrscheinlich ist er einfach nur hungrig und will gefüttert werden. Die Jungs hier füttern ihn, obwohl sie das nicht sollten. Und nun wartet er darauf, dass ihr ihm was gebt. Aber ich komme gerne mit und schau es mir an.“

„Mit dem Boot? Es sind nur wenige Meilen bis zu uns. Ich erkläre ihm, wo wir sind.“

„Nein, es ist zu windig. Da kann ich nicht alleine raus und es ist niemand da, der mich retten könnte, wenn was passiert. Die offenen Boote sind nicht ungefährlich. Aber ich bin mir sicher, das wir kein Boot brauchen. Das ist nur Boris, der Hunger hat.“

Okay, denke ich. Haben wir hier eine Riesenpanik wegen nichts veranstaltet? Oh je.

Ich schreibe der Taucherin und der Teppichfrau, das es vermutlich eine Entwarnung gibt, wir das aber noch einmal überprüfen wollen. Die Taucherin wollte gerade ins Auto steigen und losfahren. Die Teppichfrau ist gerade beim Mann am Strand angekommen. Wenig später treffen auch Alan und ich ein. Und Boris ist immer noch da. Dann schaut er Alan mit dunklen Augen an, senkt den Kopf und gleitet geschmeidig in den Wellen davon.

Voris the seal @ERM Ewan Roy MacGregor

Die Schweinebacke hat uns nur was vorgespielt!

Alan bleibt noch eine Weile und sucht mit seinem Fernglas das Meer ab. Die sehr nette Teppichfrau, die mit ihren grauen langen Haaren wie ein aus den Siebzigern entflohener Hippie aussieht, steigt wieder in ihr Auto und fährt nach Hause. Wir entschuldigen uns ausgiebig, aber sie will nichts davon hören.

„War nett, euch kennengelernt zu haben“, sagt sie und fährt davon. „Schönen Sonntag noch!“

Ich hätte gerne den Teppich gesehen. Dann verabschiedet sich auch Alan.

Der Mann und ich sind allein. Seal in distress! Von wegen!

Am nächsten Abend klopft es an unserer Küchentür. Ich öffne und aus dem Gartendunkel tritt Alan hervor.

„Hallo, ich wollte euch nur sagen, dass wir heute Boris gesehen haben. Es geht ihm gut.“

Dan dreht er sich um und geht freundlich winkend zurück zu seinem Auto.

Also mal ehrlich. Man möchte nie ein Tier in Not sehen, aber in Schottland verbindet es die Menschen und schafft neue Freundschaften. Und nun reden wir über Boris als gehöre er zur Familie.

„Hallo Schatz, ich habe Boris heute Morgen gesehen.“

„Ist das Boris da draußen?“

„Boris war heute da?“

Was Boris wohl über uns denkt?

Abenteuer Highlands 3 – Ja hört das denn nie auf!

Nach den ersten Erfahrungen mit den Highlands habe ich das erste Buch geschrieben: Abenteuer Highlands – mein etwas anderes Leben im schottischen Hochland. Damals noch ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass es vielleicht mehrere geben könnte. 

Die Jahre gingen ins Land und die Abenteuer wurden nicht weniger. Deshalb, und weil ich immer wieder gefragt wurde, ob es nicht bald einen zweiten Teil von Abenteuer Highlands gäbe, habe ich ihn geschrieben. Abenteuer Highlands 2.0 – zwischen Schwarzwald und Schottland – alles, was ein Doppelleben in zwei Ländern aufregend und erzählenswert macht. 

Nun ist Abenteuer Highlands offiziell eine Serie und der nächste Band in Arbeit: Abenteuer Highlands 3 – Ja hört das denn nie auf! Ende 2023 als Taschenbuch und eBook bei Amazon verfügbar. 

Nellie Merthe Erkenbach