Verloren in der Goldwüste

Das nationale Gesundheitssystem ist eine tolle Sache. Zumindest in der Theorie. In der Praxis waren die Wartezeiten in den Notaufnahmen nie länger, die Krankenschwestern und Pfleger nie unzufriedener und die jungen Ärzte streiken für mehr Geld, um zumindest die Inflation ausgleichen zu können. Dazu hat jede Menge Personal im Gesundheitswesen das Land nach dem Brexit verlassen oder verlassen müssen. Die Lage ist also angespannt und ich merke zum ersten Mal ganz direkt, was das bedeutet.

Wir sitzen eines Abends gemütlich auf den Couch. Okay, manche von uns sitzen, andere liegen eher. Ich knabbere Erdnüsse und habe auf einmal so ein komisches Gefühl im Mund. Ich gehe der Sache auf den Grund und stelle fest, dass mir ein Stück Backenzahn abgebrochen ist. Ein kleines Stückchen Rest-Zahn ist noch übrig um die riesige und uralte Amalgam-Füllung. Die eingerissene Ecke hat scharfe Kanten und ist so was von nervig. Ich brauche einen Zahnarzt.

Kann ja nicht so schwer sein, denke ich. Schließlich habe ich ja auch einen Hausarzt hier. Ich muss mich nur bei einem Zahnarzt registrieren und um einen Termin bitte. Ich bin auch bereit zu warten. Kein Problem.

Stellt sich heraus, so einfach ist es natürlich nicht. Eine Zahnarztpraxis hier in der Gegend hat geschlossen, die andere gibt es noch, aber die nimmt keine neuen Patienten an. Also ziehe ich meine Kreise weiter. Ist ja nicht so schlimm, wenn man zum Zahnarzt mal eine Stunde fahren muss. Von mir aus auch zwei Stunden. Ist will das ja nicht regelmäßig machen. Aber auch die Praxen weiter weg nehmen keine Patienten mehr an. Ich schreibe Mails, telefoniere, gehe undurchsichtige Listen im Internet durch.

Der Mann hat sein hab-ich-dir-ja-gleich-gesagt Gesicht aufgesetzt und schweigt wissend. Er kennt das Problem mit den Zahnärzten. Kinder, Rentner und Sozialhilfeempfänger bekommen Termine. Die anderen müssen zu privaten Zahnärzten, was bedeutet, man muss alles bezahlen. Das kann es doch nicht sein, denke ich, und forsche weiter.

Eine Sprechstundenhilfe in einer Praxis in Dingwall rät mir, die Zahnarzt Hotline des NHS anzurufen. Vielleicht können die weiterhelfen, sagt sie. Bei einer Hotline anrufen ist nicht gerade weit oben auf meiner Liste der lustigen Zeitvertreibe, aber ich mache es trotzdem und bin auch gleich auf Warteplatz 1. Das wird mein Tag, ich hab es im Gefühl!

Bald habe ich eine nette Schottin am Ohr, die sich meine Geschichte anhört und mir erklärt, dass ich eigentlich keine Berechtigung für einen Nottermin habe. Dann geht sie die Standard-Frageliste mit mir durch.

Nein, ich habe keine Allergie. Nein, ich bin nicht herzkrank. Nein, mein Blutdruck ist nicht zu hoch … Das geht ein paar Minuten so weiter, dann sagt sie:

„Aber die scharfen Kanten reiben im Mund und das verletzt doch die Zunge, oder? Ich schau mal, was ich machen kann. Ich melde mich in zehn Minuten wieder.“

Als sie meine Adresse aufgenommen hat, hat sie gesagt, sie kommt auch aus der Gegend. Damit habe ich offensichtlich einen Bonus, denn nicht zehn, sondern maximal eine Minute später klingelt das Telefon wieder.

Ich habe einen Termin in der nächstgelegenen Praxis, in der sie mal gearbeitet hat. Das ist eine gute halbe Stunde entfernt. Passt.

Dann gilt es ein paar logistische Problem zu lösen, denn ich kann zu der Zeit das Auto nicht haben, weil der Mann da schon eingeplant ist, den Knirps von der Schule abzuholen und in dessen Haus Babyzusitten. Beide Termine kollidieren und wir müssen einiges schieben. Aber ich schaffe meinen und treffe die Zahnärztin.

Eine Frau Ende fünfzig, klein, untersetzt, jovial und eine Arzthelferin Ende zwanzig warten in einem großen Raum auf mich, in dem etwas verlassen ein Zahnarztstuhl steht. Wände und Decken sind in diesem blassen Gelbton gestrichen, den der NHS überall zu verwenden scheint. Von der ganzen Technik die man sonst in einer deutschen Zahnarztpraxis sieht, den aufgereihten sterilisierten Geräten, dem Licht, dem Spülbecken, ist nicht zu sehen. Nur dieser Stuhl und an der Wand ein paar Regale. Es könnte auch eine große, vergilbte Küche sein. Aber die beiden Frauen sind superfreundlich und sehr sympathisch.

Die Zahnärztin geht mit mir nochmals dieselben Fragen durch wie die Frau am Telefon und erklärt mir, dass die einst ihre Arzthelferin war. Dann besieht sie sich den Schaden und berichtet.

„Die Füllung ist gebrochen, scheint aber noch fest zu sein. Die kommt aber früher oder später auch. Wir können ein Provisorium draufmachen. Mit etwas Glück hält es eine Weile. Mehr kann ich nicht tun, Nellie. Du bist ja nur ein Notfall und keine Patientin.“

Ich verstehe. Eine Übergangslösung ist okay für mich. Ich habe keinerlei Schmerzen und kann gut damit leben. Der erste Versuch scheitert, aber im zweiten bleibt das Provisorium an der Stelle, an der es sein soll.

Sollte ich eines Tages eine Praxis finden, die bereit ist, mich aufzunehmen, dann könnte man das richtig machen lassen, erklärt die Zahnärztin. Kronen gibt es beim NHS, aber nur aus Amalgam. Weiße Kronen kann man nur privat machen lassen. Oder ziehen. Das macht der NHS auch. Wie mir der Mann später berichtet, scheint das die gängige Praxis zu sein, bei Problemen mit den Zähnen. Ziehen geht schnell und ist billig. Zahnreinigung, Pflege oder kosmetische Gesichtspunkte gibt es nicht in einem Gesundheitssystem, das derart zu kämpfen hat, wie das im Vereinigten Königreich.

„Und ich dachte, ich bekomme einen Goldzahn, hier“, scherze ich.

Die Zahnärztin blickt glückselig in meinen Mund und beginnt, von der Schönheit der Goldzähne zu schwärmen, seiner Farbe, die in geringer Konzentration fast schon silbrig scheint und sich geschmeidig und elegant an die anderen Zähne anschmiegt.

Ich glaube, sie würde auch lieber Gold anpassen, als Zähne ziehen, weil es billiger ist. Diese Zahnärztin ist auf Gold-Entzug.

Ich behalte meinen Zahn, das Provisorium hält und ich gehe zufrieden wieder aus der Praxis. Zuerst muss ich aber £6,20 bezahlen, Zuzahlung zur Behandlung.

Am nächsten Abend sitzen der Mann und ich wieder auf der Couch und schauen eine französische Krimiserie. Gedankenlos greife ich zu den Erdnüssen und schwupps – ist das Provisorium wieder raus. Und nun? Es sind noch über drei Monate, bis ich wieder in Deutschland und heraus aus der Dentalwüste bin. Wieder in die Hotline und erneut zur Praxis fahren scheint mir dann doch zu umständlich, solange ich keine Schmerzen haben.

„Das kann man auch selbst machen“, rät der Mann.

Echt? Ich schaue nach und finde Temparin Max Home Dental Repair Kit for repairing lost fillings and loose caps, crowns or inlays – 12+/ 13+ Repairs (package may vary). Klingt doch gut, denke ich und bestelle das. Das ist in zwei Tagen da und kostet mit £4,60 ganze £1,60 weniger als der Besuch bei der Zahnärztin.

Was wäre der nationale Gesundheitsdienst NHS ohne Amazon?

In der Goldwüste verloren!