Der Mann, die Nachtigall

Die heutige Geschichte beginnt an einem heißen Sommertag des Jahres 2018 im sonnigen Schwarzwald, an dem eine den Lesern dieses Blogs bekannte Autorin den Rasen ihres Garten mähte und dabei von der Mauer fiel. Was zunächst keine weiteren Folgen außer einem zerrissenen Blaumann und einem grün-blauen und für Röcke wochenlang untauglichen Bein zu haben schien, stellte sich ein halbes Jahr später als Meniskusriss heraus, der eine OP erforderte.

Nellie Merthe Erkenbach Abenteuer Highlands Mann Nachtigall

Erste Lernerfahrung: mähe nie auf der Mauer, es sei denn du weißt, wie man oben bleibt.

Nun also OP beim anerkannten Spezialisten und danach… ja danach Physiotherapie, Arzttermine, Auto fahren, einkaufen.. alles Dinge die mit nur einem fitten Bein hoch oben im Schwarzwald alles andere als leicht zu bewerkstelligen sind, wenn man allein lebt.

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Zweite Lernerfahrung: Mit einem Schotten ist man nie allein.

Der Mann kündigte sich an. Retter in der Not. Wie romantisch. Allerdings nicht auf einem weißen Pferd und glänzender Rüstung sondern mit dem Auto bis Edinburgh, mit dem Flieger bis Frankfurt, mit dem Leihwagen bis in den Schwarzwald. Tagestortour. Für 10 Tage. Meine „Lieblingskrankenschwester“, meine ganz persönliche Florence Nightingale!

Ich war mir allerdings nicht ganz sicher, ob der Mann meine Gedanken genauso romantisch finden würde wie ich. Schließlich war Schwester Nightingale Engländerin. Meine Romantisiererei könnte zu politischen Verwicklungen führen. Ich beschloss also, eine in der Geschichte verbriefte und herausragende schottische Krankenschwester zu wählen, mit der ich ihn vergleichen konnte. So viel political correctness musste sein. Aber ich kannte keine berühmte schottische Krankenschwester. Also Recherche. Kann man ja, als Journalistin.

Dritte Lernerfahrung: die schottischen Krankenschwestern haben viel mehr Ruhm verdient.

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Nellie Merthe Erkenbach Abenteuer Highlands Mann NachtigallWas für außergewöhnliche, großartige und beeindruckende Frauen habe ich entdeckt! Auf der Liste “Die 10 herausragenden Krankenschwestern des Ersten Weltkriegs” (ja, so eine Liste gibt es), fand ich meine Lieblingsschwester: Mairi Chisholm (sprich Mahri Tschissom), eine motorradverrückte Frau aus Nairn mit einer Leidenschaft für Geschwindigkeit und Haarnadelkurven, sie schraubte, fuhr Rennen, sie war eine echte Bikerin und diente im Ersten Weltkrieg zunächst als „Dispatch Rider“  dann ging sie nach Belgien. Dort fand sie eine ebenfalls motorradverrückte Krankenschwester namens Elsie Knocker.

Nellie Merthe Erkenbach Abenteuer Highlands Mann NachtigallGemeinsam transportierten sie verwundete Soldaten zu einem Feldlazarett (als Motorradfahrerinnen wussten sie schließlich, wie man schnell aus brenzligen Situationen kam) oder transportierten die verstümmelten Leichen ab. Frustriert von der unfassbaren Zahl der Soldaten, die dennoch ihr Leben verloren, eröffneten sie in einem verlassenen Keller ein eigenes Kamikaze-Lazarett, nur knapp 100 Meter von den Schützengräben entfernt. Sie glaubten, so mehr Leben retten zu können, weil sie die Verletzten so schneller versorgen konnten. Diese mutigen Bikerinnen retteten das Leben tausender Soldaten.

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Vierte Lernerfahrung: mein Meniskus ist Jammern auf hohem Niveau.

Kurz vor Mitternacht klopft der Mann an der Tür. Ich lege mein Bein wieder hoch, wir trinken Wein und essen Käse. Wie dankbar müssen all die Verwundeten in Belgien gewesen sein für ihre schottische Krankenschwester. Wie viel besser geht es uns doch gut hundert Jahre später. Und wie viel weniger dramatisch ist die Lage. Und doch bin ich unglaublich dankbar für meine schottische „Krankenschwester“, die zwar nicht motorradverrückt ist, aber für die motorradverrückte Meniskusverletzte den ganzen Weg aus den Highlands kam. Da verzeihe ich auch die fehlende Uniform!