Fünf Tage in Aberdeen reichen aus, um zu erkennen, dass diese Stadt voller Kontraste steckt. Auf den ersten Blick wirkt sie durch ihren grauen Granit und das oft düstere Wetter eintönig und kühl, fast steril. Doch wer genauer hinsieht, entdeckt eine lebendige Café-, Restaurant- und Shopping-Szene, die dem Stadtbild eine überraschende Dynamik verleiht. Es ist eine Stadt im Wandel, eine, die nicht ganz weiß, wo sie hingehört – zwischen vergangenem Reichtum und einer ungewissen Zukunft.

Früher war Aberdeen das pulsierende Zentrum des Ölbooms. Man erzählte mir, dass man keine Straße entlanggehen konnte, ohne alle paar Meter jemandem im Anzug zu begegnen. Heute ist das anders. Die Industrie zieht sich zurück, und mit ihr verschwindet auch der sichtbare Wohlstand. Das merkt man nicht nur an der Atmosphäre, sondern auch an den Immobilienpreisen – laut einer aktuellen Studie sind die Hauspreise hier die niedrigsten in ganz Schottland. Ein Glücksfall für Käufer, aber eben auch ein deutliches Zeichen dafür, dass der Markt sich woandershin verlagert.

Gleichzeitig gibt es in Aberdeen eine tief verwurzelte Tradition des Wissens. Die Universität, gegründet im 15. Jahrhundert, gehört zu den ältesten des Landes. Besonders spannend finde ich, dass hier Kriminologie studiert werden kann – eine Disziplin, die einen faszinierenden Einblick in reale Verbrechen gewährt. Viele Professoren engagieren sich aktiv im True-Crime-Spektrum, was Aberdeen einen modernen, intellektuellen Anstrich gibt.

Architektonisch hat die Stadt einige beeindruckende Gebäude zu bieten: die Cowdray Hall, das Marischal College, die Music Hall – alle aus massivem Granit. An sonnigen Tagen reflektiert der Stein das Licht auf eine fast silbrige Weise, aber an trüben Tagen verstärkt er nur die monotone Farbgebung der Stadt. Es gibt wenig Farbe, weder im Stadtbild noch oft im Wetter. Umso spannender sind die Street-Art-Murals im Banksy-Stil, die plötzlich aus dem Grau herausstechen und Aberdeen einen Hauch von Subkultur verleihen.

Aberdeen ist ein Ort, den man erlebt haben muss. Ihre Gegensätze machen sie faszinierend – eine Mischung aus reicher Geschichte, intellektuellem Anspruch und einem Hauch von Melancholie. Ob ich hier leben wollte, weiß ich nicht. Aber als Reiseziel? Absolut. Ein Ort, der überrascht und irritiert – aber genau das macht ihn spannend.


Danke für diesen Beitrag. Ich empfand damals 1990 Aberdeen als ähnlich irritierend. Der rauche Wind der Hafen, das strenge, aber auch das Glitzern und Flimmern, die kleinen Pubs die Künstlerszene die Kunsthalle war sehr gut. Ich mochte Stadt und ich mochte sie nicht. So anders als Edinburgh. Schottland blieb mir insgesamt seltsam fremd obwohl es mich auch faszinierte. Orkney ist ein absoluter Favorit
Schottland blieb fremd? Das hört man wirklich selten – meistens wird Schottland ja als sofort „herzöffnend“ beschrieben. Aber gerade dieses Gefühl von Fremdheit kann ja auch eine Art von Faszination sein, oder? Und Orkney, ja! Vielleicht wegen der nordischen Einflüsse, der Weite, dem Licht, das irgendwie anders ist. Alles wirkt ruhiger, ursprünglicher. Fast wie ein Zwischenort – nicht ganz Schottland, nicht ganz Skandinavien.
Vielleicht sind es auch die Netze in die man eingebunden ist bzw war. Ich arbeitete in der Nähe von Aberdeen und sah Aberdeen selbst nur einmal in der Woche..In Orkney verbrachte ich due Urlaube in Hoy auf Rackwick. Ein Haus direkt am Meer da konnte man im Lesesessel setzen durch bodentiefe Fenster auf das Meer blicken. Schottlands Wetter ist rau vielleicht war es der unruhige Wind der mich nie ganz ankommen liess
Ganz sicher spielt es eine Rolle, in welche Netze man einmal eingebunden ist – die Orte, die Menschen, der Alltag. Dein Haus in Hoy klingt traumhaft: direkt am Meer, mit Blick durchs Fenster auf die Weite. Aber Schottland bleibt rau, der Wind unruhig, das Wetter fordernd. Vielleicht ist es genau dieser ständige Wechsel, der einen nie ganz ankommen lässt – und der gleichzeitig so sehr fasziniert.